90 Jahre „Die Hölle von Steyr“

Vor 90 Jahren galt Steyr als die ärmste Stadt Europas. Berichte über den Hunger in Steyr gingen um die Welt. Im Dezember Amtsblatt des Jahres 2021 ist die eindrucksvolle Reportage „Die Hölle von Steyr“ von Hans Habe, der in der Silvesternacht Steyr besuchte, in gekürzter Form abgedruckt.

Die Reportage erschien am 4. Jänner 1932 in der Wiener Sonn- und Montagszeitung.

Den ungekürzten Text über das Elend der Arbeitslosen kann man im Original auf der Homepage der Nationalbibliothek nachlesen:

https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wsz&datum=19320104&zoom=33


Stadtarchivarin Dr. Doris Hörmann setzt im folgenden Text die Aussagen in Hans Habes Reportage in den Kontext der Zeit:


90 Jahre „Die Hölle von Steyr“

Am 30. Dezember 1931 erklärt der Steyrer Bürgermeister Franz Sichlrader in einer denkwürdigen Gemeinderatssitzung den Bankrott der Stadt. Daraufhin wird der 21-jährige Journalist Hans Habe als Sonderberichterstatter der Wiener Sonn- und Montagszeitung in die „sterbende Stadt“ Steyr geschickt. Zum Jahreswechsel 1931/32 macht er sich ein Bild von den schockierenden Zuständen, unter denen mehrere tausend Menschen in Steyr leben müssen.

Man muss in Steyr, dieser ärmsten Stadt Europas gewesen sein, um zu begreifen, was sich hinter toten Zahlen verbirgt. 11.000 Tragödien in einer Stadt, zehntausende menschliche Katastrophen.

(aus: Hans Habe, Die Hölle von Steyr, in: Wiener Sonn- und Montagszeitung, 4. Jänner 1932)

Habes Reportage mit dem Titel „Die Hölle von Steyr“ erscheint am 4. Jänner 1932 in Wien, erregt internationales Aufsehen und genießt unter Journalisten bis heute großes Ansehen. Noch im Jänner berichten auch „Das interessante Blatt“ (Wien), „Der Kuckuck“ (Wien), „Die Münchner Illustrierte Presse“ (München), der „Daily Telegraph“ (Vereinigtes Königreich) und andere Zeitungen im In- und Ausland von der unfassbaren Not in Steyr. Wie war es dazu gekommen?

Und übermorgen werden wieder 300 Menschen entlassen. Dreihundert Menschen gehen wieder ins Elend und ins Unglück. Hinter ihnen schließen sich die riesenhaften eisernen Tore der Fabrik Steyr.

Kurz vor seinem Tod hatte der Steyrer Bürgermeister Josef Wokral (1875–1926) noch davor gewarnt, dass Steyr zu abhängig von einem einzigen Unternehmen sei. Die Waffenfabrik, die inzwischen Autos fertigte, bezeichnete er als Konjunkturunternehmen, sodass „Wohl und Wehe der gesamten Bevölkerung“ von ihr abhänge.1

Beschäftigte Steyr Werke

Die Waffenproduktion in Steyr erlebte mit dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt. 1917 fanden mehr als 13.000 Menschen Arbeit in der Waffenfabrik.
Nach dem Krieg wurde mehr oder weniger erfolgreich auf Fahrzeugproduktion und Elektroindustrie umgesattelt. Die Beschäftigungszahlen der Kriegs- und Vorkriegsjahre konnten aber nicht mehr erreicht werden. Die Arbeitslosigkeit in Steyr war hoch und viele lebten in Armut.
Mit der Weltwirtschaftskrise in Folge des New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 verschlimmerte sich die Lage in Steyr dramatisch. Von 6500 Beschäftigten verloren innerhalb eines Jahres mehr als 4500 ihre Arbeit.
Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit stieg stark an und machte Steyr zur ärmsten Stadt Europas. Die Menschen hungerten 90 Prozent der Kinder waren unterernährt.


Wokrals Befürchtung wird grausame Realität, als die Bodenkreditanstalt – die Hausbank der Steyr-Werke – im Oktober 1929 zusammenbricht.Schon im August und September 1929 hatte das Unternehmen hunderte Mitarbeiter*innen entlassen. Die Wirtschaftslage der Zwischenkriegszeit war ohnehin sehr schlecht gewesen, auch um die Finanzen der Stadt stand es in den 1920er Jahren nicht gut. Hinzu kam eine Reihe besonders kalter Winter, die das Leben der zum Teil in Baracken lebenden Steyrer*innen besonders erschwerte.

An Wintertagen stehen die Schulzimmer oft fast leer. Die Hälfte der Schüler und mehr fehlen. Sie können nicht kommen, weil sie keine Schuhe haben. Oder große Löcher in den Schuhen. Der Schnee sickert durch. Die Mäntel sind fadenscheinig.

Im Kältewinter 1928/29 schwanken die Temperaturen zwischen -25 und -37 °C. Die Stadt richtet erstmals eine Winterhilfsaktion ein, die sie in den Jahren darauf wiederholt.Der drohenden Katastrophe versucht der Gemeinderat noch durch den Verkauf von Gemeindeeigentum und verschiedene Hilfsmaßnahmen gegenzusteuern: Anfang 1930 wird der Verkauf des Krankenhauses und des St.-Anna-Spitals an das Land Oberösterreich beschlossen.Die städtische Polizei wird an den Bund verkauft.Bundeskanzler und Landeshauptleute werden wiederholt um Hilfe angefleht.Der Gemeindebetrieb wird drastisch zurückgefahren, Arbeitern und Angestellten wird gekündigt, die verbleibenden Beamten und Vertragsangestellten der Stadtverwaltung verzichten auf 20 Prozent ihres Gehalts.Winterhilfsaktionen mit Ausspeisungen, Kleiderausgaben und der Bereitstellung von Heizmitteln werden organisiert.Spenden von Kaufleuten, der besser gestellten Bevölkerung, den umliegenden Bauern oder Sammlungen bei Benefizveranstaltungen werden unter den Bedürftigen verteilt.

Die Wehrgrabenbaracken. An dem schmutzigen Wehrgrabenkanal. Verfallene Hütten. Morsches Holz. Hier war früher ein Pferdestall. Jetzt bewohnen Menschen diesen Stall. Wehrgrabenbaracke 30.

Die Abwärtsspirale ist aber nicht mehr aufzuhalten: Das einstige Rückgrat der Gemeindefinanzen, die Lohnabgabe, sinkt mit dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Während 1929 in den Steyr-Werken noch 6.000 Arbeiter*innen beschäftigt waren, sind es 1931 nur mehr 1.500.10 Je mehr Menschen in Steyr aber dauerhaft ohne Arbeit sind, desto höher werden die Ausgaben der Stadt für die Fürsorge, z.B. Arbeitslosengeld und Notstandshilfe.11

Die Stadt ist stellenweise ausgestorben. Nur eine unendliche Anzahl von Kindern überflutet, wie Ameisen, die Straßen. Kleine, magere, zerlumpte Gestalten. Schmale Gelenke und rotgeränderte Augen. Dünne Fetzen und zerrissene Schuhe.

Ende Dezember 1931 werden in Steyr 11.570 der 22.000 in Steyr lebenden Personen in irgendeiner Weise amtlich befürsorgt. Während ein Arbeiter in den Steyr-Werken wöchentlich durchschnittlich 60 Schilling verdiente, kann die Stadt Verheiratete oder Familienhalter je nach Familienumfang mit nur 4 bis 8 Schilling pro Woche unterstützen. 90 Prozent der Kinder gelten als schwer unterernährt, seit Monaten leben sie nur von dünner Wassersuppe. Darüber hinaus sind sie von Tuberkulose und anderen Krankheiten betroffen.12

Ich fand zwar in den Baracken Reste von Puppen und Spielzeug: aber die Kinder spielen nicht. Sie haben Hunger und frieren.

Die Reportage von Hans Habe und alle folgenden Berichterstattungen lösen eine Welle der Hilfsbereitschaft aus dem In- und Ausland aus. Spenden an Geld, Lebensmitteln und Kleidung werden nach Steyr geschickt. Über die Sommermonate können hunderte Steyrer Kinder bei Wiener, Nürnberger und Schweizer Familien zur Verköstigung unterkommen.13 Die Hilfen erweisen sich als punktuelle Linderungen, können die tiefer liegenden Probleme der Stadt aber nicht beseitigen. Tausende Steyrer*innen werden noch Jahre unter Hunger, Kälte, Arbeitslosigkeit und Verzweiflung leiden, bevor die Lage eskaliert.

In Steyr gibt es kaum noch Hunde. […] Aber im Stillen wissen es alle: in dieser Stadt des Hungers hat man die Hunde getötet und gegessen.

Ende Dezember 1932 warnt Bürgermeister Sichlrader in der Gemeinderatssitzung vor möglichen Ausschreitungen der Notleidenden.14 In derselben Sitzung kommt es zu Tumulten zwischen sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Mandataren während des Referats von Fürsorgereferent Azwanger.15 Nachdem die Arbeitslosen- und Notstandsbezüge massiv gekürzt werden, kommt es ab Jänner 1933 tatsächlich regelmäßig zu großen Demonstrationen auf dem Steyrer Stadtplatz.16 Im März 1933 wird die sozialdemokratische Wehrformation „Republikanischer Schutzbund“ verboten.17 Im Hungerwinter 1933/1934 wird es angesichts der allgemeinen politischen Entwicklung schließlich zur Eskalation – dem Bürgerkrieg vom 12./13. Februar 1934 – kommen.


  1. Vgl. Josef Wokral, Die Zukunftsaufgaben der Stadt Steyr, in: Ober-Österreich. Land und Volk, Wien 1926, 195–196, hier 195 f.
  2. Vgl. StA Steyr, Gemeinderatsprotokoll vom 30. Dezember 1932, Tagesordnungspunkt 1: Budget-Provisorium für das 1. Kalendervierteljahr 1933, R2, 108–113.
  3. Vgl. Raimund Locicnik, So kam es zum Bürgerkrieg in Steyr, in: Oberösterreichische Nachrichten, 12.02.2009, 34, hier 34.
  4. Vgl. ebd.
  5. Vgl. ebd.
  6. Vgl. ebd.
  7. Vgl. Chronik für Steyr-Stadt und -Land und die angrenzenden Gerichtsbezirke. Vom 1. September 1931 bis 31. August 1932, in: Illustrierter Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungs-Kalender, Steyr 1933, 268–378, hier 305 f.
  8. Vgl. ebd., 290.
  9. Vgl. ebd., 296.
  10. Vgl. ebd., 269.
  11. Vgl. Locicnik, Bürgerkrieg in Steyr, 34.
  12. Vgl. Steyrer Kalender 1933, 307 f.
  13. Vgl. StA Steyr, Gemeinderatsprotokoll 1932, 126; Vgl. Bildmaterial zur Steyrer Kinder-Aktion im Schweizerischen Sozialarchiv, https://www.bild-video-ton.ch/suche/in/dcTI_serie/U3RleXJlciBLaW5kZXIgMTkzMS0xOTMz/.
  14. Vgl. StA Steyr, Gemeinderatsprotokoll 1932, 129.
  15. Vgl. Locicnik, Bürgerkrieg in Steyr, 34.
  16. Vgl. ebd.
  17. Vgl. ebd.

Grafik: Magistrat Steyr | Presse

Quellen:
Stockinger Josef: Die Zeit die prägt. Eigenverlag. Steyr 2011. S. 34
Doppler Hans: 75 Jahre Steyr-Werke. Festschrift. Steyr 1939. S. 40
Steyrer Kalender 1919. S. 68
Neubauer Helga: Österreichische Waffenfabriksgesellschaft bzw. Steyr-Werke AG1914-1934. Dissertation. Wien 1974
Metallarbeiter Tätigkeitsbericht 1921, 1923, 1933
Allgemeines Verwaltungsarchiv, BKA Inneres 22/OÖ 5105
Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1926, 1927, 1928, 1933-35